Scheinbare Normalität (1) - ein Überblick

Niemand will sich "anders" fühlen - was also tun, wenn man anders ist? In diesem ersten Beitrag einer Reihe möchte ich auf die Probleme eingehen, die zur Bildung von Mechanismen führen, um in der "normalen Welt" einen Platz zu finden. Außerdem möchte ich hier einen Überblick über diese Mechanismen geben, auf die ich in den kommenden Beiträgen genauer eingehen werde.

Es freut mich, dass mein erster Beitrag so viel Anklang und positive Resonanz gefunden hat. Vorab vielen Dank dafür.

Mein heutiger Beitrag soll einen Einblick in das Geheimnis liefern, warum Autisten des „leichten Spektrums“ im Alltag oft so unauffällig wirken können und welche antrainierten Mechanismen hier zum Einsatz kommen.

Immer wieder werde ich von Leuten angesprochen und gefragt, wie es denn sein kann, dass ich Autist bin, obwohl ich keinerlei Auffälligkeiten zeige und gar nicht so anders wirke.

Einerseits ist dies sehr schmeichelhaft, da es mir zeigt, dass meine Mechanismen sehr gut greifen und ich nach außen tatsächlich „normal“ wirke.

Andererseits hat dies aber auch fatale Folgen: durch meine augenscheinliche Normalität werden Erwartungen an mich gestellt, die ich auf Dauer allerdings nicht auf Abruf erfüllen kann – der äußere und innere Erwartungsdruck steigt daher langsam, aber stetig an.

Dies führt dazu, dass immer mehr Energie darauf verwendet werden muss, die Funktionalität aufrecht zu erhalten – und man erreicht damit genau das Gegenteil. Denn das Ende der Funktionalität wird damit nur hinausgezögert und der Fall wird umso tiefer.

Aber warum tut man sich das selbst an?

Das ist eine Frage, die sich an dieser Stelle sicher viele stellen werden. Die Antwort hierzu ist ganz einfach: niemand fühlt sich gern als Außenseiter – kurzum: man will nicht anders sein, als die Anderen.

Wahrscheinlich auch deshalb, weil man eben einen sehr guten Einblick in „die andere Welt“ hat und gerne ein Teil davon wäre. Oder anders ausgedrückt: man will vermeiden, dass man in dieser „normalen“ Welt vielleicht keinen Platz findet.

Diese Angst mag im ersten Moment etwas unverständlich und weit her geholt wirken - aber man muss dabei bedenken, dass diese Angst und die antrainierten Mechanismen aus den Erfahrungen resultieren, die man während der Kindheit, Pubertät und des jungen Erwachsenenalters gemacht hat.

Es war einmal: mein jüngeres Ich - ein kurzer Rückblick

Fast mein ganzes, bisheriges Leben kannte ich Autisten nur aus Filmen und hatte somit eine völlig falsche Vorstellung davon, was Autismus tatsächlich ist.

Zu meiner Schulzeit war die Autismus-Forschung außerdem bei weitem noch nicht so weit vorangeschritten, wie sie heute ist. Somit wäre es auch unmöglich gewesen, auch nur einen Verdacht zu hegen, dass ich Autist sein könnte und meine „Andersartigkeit“ im Spektrum begründet liegt. Für mich war damals nur klar: egal, wie sehr ich mich auch anstrengte, ein Teil der Masse zu sein – ich schaffte es nicht.

Ob es nun das Schließen von Freundschaften war oder der generelle Alltag an der Schule – ich hatte nie wirklich Anschluss gefunden. Und wenn ich doch einmal in den Genuss gekommen war, dann konnte ich diese Zugehörigkeit auf Dauer nicht aufrechterhalten.

„Ich bin anders und das obwohl ich augenscheinlich doch gar nicht anders bin!?“

Wenn man nicht weiß, worin diese „Andersartigkeit“ wurzelt und dass diese gar nicht negativ ist, kommt man unweigerlich zu folgendem Schluss: so wie man ist, genügt man wohl nicht.

Und genau dieses Gefühl will man nicht. Man will genügen und Teil von Allem werden – dazugehören. Daher beginnt das Gehirn unbewusst Mechanismen auszuarbeiten, die eine Zugehörigkeit – zumindest auf Zeit - ermöglichen.

Wie funktionieren diese Mechanismen?

Zuerst wollte ich nur einen Beitrag über den Mechanismus der Funktionsbereiche schreiben. Nach über 1.500 Wörtern und keinem sichtbaren Ende, wurde mir klar, dass dieses Thema komplexer ist, als ich zuerst angenommen hatte und mehrere Mechanismen umfasst.

Daher soll dieser Beitrag nur als Einführung in diese Thematik dienen und den Grund erläutern, warum die Schaffung dieser Methoden notwendig war, sowie eine kurze Übersicht der Mechanismen liefern.

Auf die einzelnen Mechanismen werde ich in eigenen Blog-Beiträgen näher eingehen. Ich will euch ja nicht erschlagen ;-)

Kompensationsfähigkeit

Ein Grundpfeiler der „äußeren Normalität“ ist die Fähigkeit, Defizite kompensieren zu können. Je besser dieses Talent ausgeprägt ist, desto leichter wird es, sich in der „normalen Welt“ zurechtzufinden.

Ein großes Talent darin führt aber auch zu einem weiteren Problem. Autisten, die besser kompensieren können, wird automatisch auch eine leichtere Ausprägung unterstellt. Dies führt zu dem häufigen Trugschluss, dass diese auch weniger Probleme im Alltag haben. Das stimmt so aber nicht. Die Probleme selbst sind stets die Gleichen - nur die Ausprägung, die wir nach außen hin zeigen ist entweder leichter oder schwerer.

Das Kompensieren an sich ist niemals leicht und nur, weil man nach außen hin keine Defizite erkennen lässt, heißt dies nicht, dass keine vorhanden wären oder das Leben dadurch leichter wird.

Struktur gibt Sicherheit

Der größte Energiefresser des Alltags ist - neben der sozialen Interaktion mit anderen Menschen - die Notwendigkeit, auf Ereignisse spontan reagieren zu müssen.

Um hier einen Ausgleich zu schaffen und den Energiebedarf möglichst gering zu halten, ist es notwendig, eine feste Struktur zu schaffen. Mit einem festen Rahmenprogramm wird ein wichtiger Teil des ansonsten chaotischen Alltags planbar gemacht.

Funktionsbereiche

Ein weiterer Mechanismus – und vielleicht sogar der nach außen hin Wichtigste – ist die Aufteilung des Alltags in Funktionsbereiche.

Diese Lösung ist so simpel, wie effektiv – denn durch die Schaffung kleiner, überschaubarer Teilbereiche wird das „Funktionieren“ im gerade erforderlichen Bereich erleichtert. Denn dieser Teilbereich ist genau abgesteckt, die Rahmenbedingungen definiert – er stellt somit eine eigene Einheit des Alltags dar.

Zum Blog-Beitrag zum Thema "Funktionsbereiche" geht es hier.

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