Einerseits bietet uns diese Tarnkappe die Möglichkeit, uns nahezu nahtlos in die nicht-autistische Gesellschaft einzufügen. Andererseits führt sie dazu, dass wir ständig aufgefordert sind, Kompensationsarbeit zu leisten, um auch weiterhin Teil ebendieser Gesellschaft zu bleiben. Oftmals funktioniert diese Kompensation derart gut, dass wir sie selbst nicht als solche erkennen. Wir erlernen diese Fähigkeiten instinktiv so gut, dass wir uns oft genug selbst nicht als Autisten wahrnehmen. Wir leben also einen Großteil unseres Lebens unentdeckt. Unentdeckt von der Gesellschaft und - was noch schlimmer ist - unentdeckt von uns selbst. Wir leben somit oftmals ein Leben, das auf eine funktionale Integration in die Gesellschaft ausgerichtet ist - von einem autistisch-selbstakzeptierenden Leben ist dies aber weit entfernt.
Diese Abgeschnittenheit von unserem eigentlichem Selbst hat allerdings fatale Folgen. Sie führt nämlich sehr oft zu Depression und autistischen Burn-Outs, da wir im Laufe unseres Lebens keinen Bezug zu uns selbst aufbauen können. Wie sollen wir auch Selbstbewusst durch das Leben schreiten, wenn wir uns unserer Selbst gar nicht bewusst sind?
Vielmehr übernehmen wir meistens die Rolle, die in der aktuellen Situation am Effektivsten zu sein scheint. Sehr oft kann dies auch eine scheinbar extrovertierte Rolle sein - wir imitieren Verhaltensweisen, die wir bei anderen beobachtet haben und die in einer ähnlichen Situation erfolgreich schien. Außerdem bietet eine oberflächliche "arrogante" Extrovertiertheit auch den Anschein einer Nicht-Angreifbarkeit. Wir scheinen unnahbar und distanziert - aber nicht aus Arroganz oder Überheblichkeit, sondern aus unserer tiefen Verletzlichkeit heraus und dient daher alleine dem Selbstschutz.
So kann es also durchaus sein, dass wir sowohl Klassenclown, scheinbarer Frauenheld oder zurückhaltend und schüchtern sein können. Je nach Situation und erlernten Tarnmustern. Haben wir keine passenden Tarnmuster parat, kann es durchaus vorkommen, dass sich alle erlernten Mechanismen innerhalb kürzester Zeit abwechseln und unser Verhalten somit seltsam erscheint. Dies passiert aber keinesfalls bewusst. Wir können nicht sagen "Das ist Situation XY, hier verwende ich nun Verhaltensweise A". So funktioniert das leider nicht. Genauso intuitiv, wie wir diese Muster erlernt haben, so unbewusst wenden wir sie auch an. Wir merken oft nur am Verhalten unseres Gegenübers, dass wir nun über die Stränge geschlagen haben. Zu diesem Zeitpunkt ist es allerdings bereits zu spät und wir erhalten erneut eine negative Reflexion unseres Verhaltens.
Gepaart mit einem unentdeckten zugrundeliegenden Autismus liefert uns dieses ständige Anecken ein negatives und vor allem völlig falsches Selbstbild. Unser sowieso schon auf wackeligen Beinen stehendes Selbstbewusstsein bröckelt noch mehr. Wir zwängen uns daraufhin also noch mehr in eine aufgesetzte Maskerade, da wir denken, dass unser eigentliches Ich nicht genügt oder nicht gesellschaftskompatibel ist. Wir nehmen unser Selbst so weit zurück, um uns in eine Gruppe einfügen zu können, dass wir langfristig den Bezug zu uns selbst verlieren. Wir leben zwar, aber wissen eigentlich nicht, wer wir tatsächlich sind.
Eine Diagnose bietet also Rettungsboje und Chance zugleich. Sofern man - oft per Zufall - überhaupt auf die Thematik Autismus stößt. Gerade deshalb muss das Thema Autismus deutlich stärker in das gesellschaftliche Bewusstsein rücken. Damit selbst Autisten im hochfunktionalen Spektrum eine Chance auf eine frühe Erkennung haben und somit auch den Zugang zu effektiven Hilfen erhalten.
Außerdem gilt: je früher die Diagnose, desto weniger muss man sein wahres Ich durch falsche Reflexion mit imitierten Verhaltensmustern überlagern. Außerdem ist eine frühe Erkennung essentiell! Selbst für mich ist es - trotz des Wissens um meinen Autismus - sehr schwer, die erlernten Tarnmechanismen zu identifizieren und abzulegen. So manövriere ich mich tagein tagaus in Situationen, die einen Overload begünstigen oder verhalte mich nicht so, wie ich mich eigentlich verhalten würde. Weil ich nicht weiß, was mein tatsächliches Ich ist und was mein kompensiertes "Ich". Der Weg zur (Wieder-) Selbstfindung ist steinig und schwer.
Hinzu kommt die alte Angst. Die Angst vor Zurückweisung und dem "Nicht-Dazu-Gehören". Denn - emotionale - Isolation ist die schlimmste Konsequenz, die einem Menschen widerfahren kann. So habe ich sogar nach nunmehr drei Jahren Wissen um meinen Autismus noch immer die Angst, mich als Autisten im Alltag zu zeigen. Angst davor, meine Tarnkappe abzulegen und mein wahres Wesen preiszugeben. Angst davor, am Ende allein zu sein. Also genau die Ängste, die überhaupt dazu geführt haben, eine solche Tarnkappe zu weben.
Bitte versteht mich nicht falsch. Ich gehe (wie man sieht) sehr offen mit meinem Autismus um. Darum geht es in dieser Angst auch gar nicht. Ich habe kein Problem damit, über meinen Autismus zu sprechen und die Defizite aufzuzeigen - diese aber tatsächlich zu zeigen ist das eigentlich Schwierige daran.
Gerade Mädchen und Frauen sind besonders davon betroffen
Was bei Jungen oder Männern schon zu Schwierigkeiten führt, zeichnet sich bei Frauen noch deutlicher ab. Denn zu ihrer Fähigkeit der Imitation kommt noch eine Besonderheit, die eine Lücke in unserem gesellschaftlichen Konstrukt schafft und in der insbesondere Mädchen und Frauen buchstäblich "unsichtbar" werden können.
Denn das klischeehafte Bild, welches die Gesellschaft von Mädchen und Frauen noch immer zeichnet, schafft Platz für ruhige, schüchterne und introvertierte Persönlichkeiten. Eben diese Charakterzüge werden bei Frauen viel häufiger toleriert, als bei Männern. Eine zurückhaltende Frau fällt in der Betrachtung deutlich weniger auf, als ein schüchterner Mann. Denn von einer Frau werden solche Eigenschaften in der vorherrschenden Betrachtung der Rollenverteilung noch immer oftmals sogar erwartet. Sie muss nicht (und in mancher Vorstellung sicherlich auch "soll nicht") aus der Masse hervorstechen und extrovertiert agieren. Von Männern hingegen wird es durchaus erwartet, ein "Alpha-Tier" zu sein und fallen ebenso leicht auf, wenn wir dies nicht leisten können. Dies mag seltsam und antiquiert erscheinen, aber in der breiten Masse ist dies immer noch der Status Quo.
Kurz gesagt können Frauen also leicht den Erwartungen des Bildes eines schüchternen, freundlichen Mädchens von nebenan gerecht werden und bleiben somit oftmals unauffällig und ihr Autismus unbemerkt. Leider allzu oft auch im Zuge der Diagnostik.
Keine Diagnose - keine Hilfe, dafür ein umso falscheres Selbstbild
Greifen die Kompensationsmechanismen also zu gut - auch während der Diagnose - und ist die gefundene Lücke in der Gesellschaft nur allzu passend für diese Person, so ist eine falsch-negative Diagnose sehr häufig der eintretende Fall.
Für viele undiagnostizierte Autisten bedeutet dies ein Verwehren von Hilfen und ein Absinken in eine andauernde Depression. Häufig auch gefolgt von suizidalen Gedanken oder Handlungen.
Dass die erlernten Kompensationsmechanismen auch während der Diagnostik greifen, habe ich während meiner eigenen Diagnosesitzungen erfahren. Glücklicherweise habe ich mich im Vorfeld genug sensibilisiert, um auf kleinste Trigger reagieren zu können. Dies war allerdings sehr anstrengend und hat ein enormes Maß an Konzentration erfordert. Aber so konnte ich meiner Ärztin genug Informationen liefern, um eine korrekte Diagnosestellung zu ermöglichen. So konnte ich ihr zum Beispiel beim Beantworten der Fragebögen sowohl meine kompensierte Antwort, als auch meine innere Antwort benennen. Gerade auf diesen Aspekt sollten Diagnostiker besonders sensibilisiert werden.
Ein Ausweg aus diesem Teufelskreis
Dieser Spirale können wir nur entfliehen, wenn das Bewusstsein über das Vorhandensein dieser Tarnkappen in der Gesellschaft und vor allem bei den Diagnosestellen geschärft wird. Es muss ein einheitlicher Standard in diesen Stellen etabliert werden, welcher ständig aufs Neue hinterfragt und optimiert wird. Zudem muss das Thema Autismus der breiten Bevölkerung nähergebracht werden und insbesondere Erzieher/-innen und Lehrer/-innen für diese Thematik sensibilisiert werden. In diese Aufklärungsarbeit müssen insbesondere Autisten mit einbezogen werden. Wir wissen, was wir brauchen - ihr müsst uns nur zuhören.
Zudem brauchen wir speziell geschulte Therapeuten, die Therapien ermöglichen, in denen gerade die schädlichen Maskierungsmechanismen identifiziert und Stück für Stück zurückgebaut werden können. Alleine schaffen wir dies nicht, da unsere Kompensationsfähigkeit dafür zu intuitiv funktioniert. Natürlich werden wir dann öfter in der Gesellschaft anecken, aber für ein Miteinander benötigt es immer zwei Seiten. Es kann nicht angehen, dass wir alleine einen Großteil übernehmen, um es der nicht-autistischen Mehrheit leichter zu machen, uns an der Gesellschaft teilhaben zu lassen.
Das ist nämlich keine Teilhabe, das ist Rosinenpickerei