Autismusdiagnose im Schatten der Kompensation

oder wie wichtig kompententes Personal für eine zuverlässige Diagnostik ist

Die Diagnostik bei Autisten wird zwar generell immer besser, die Dunkelziffer an Autisten mit negativer Autismusdiagnose - gerade bei weiblichen Autisten - ist aber dennoch weiterhin sehr hoch. Ein Grund dafür ist eine zu gut funktionierende Kompensationsfähigkeit, die auch während den Diagnosesitzungen unbewusst greift und die Diagnose dadurch "kompensiert" wird. Ein weiterer Grund ist ein völlig veraltetes Bild über Autismus, welches leider bei vielen Diagnosestellen noch immer vorherrscht und eine Diagnose aufgrund weicher, also im Grunde irrelevanter Kriterien scheitern lässt.

Zu gut funktionierende Kompensation

Zu den Hauptgründen für falsch-negative Autismusdiagnosen bei hochfunktionalen Autisten zählt ausgerechnet die Eigenschaft, die für unseren hohen Grad an Funktionalität verantwortlich ist - unsere Kompensationsfähigkeit. Denn diese ist oft so stark ausgeprägt, dass die hierfür nötigen Mechanismen völlig unbewusst erlernt wurden und somit auch ohne unser bewusstes Zutun greifen.

Leider macht unser Gehirn während der Diagnostik keine Ausnahme und so passiert es, dass für die Diagnose entscheidende Punkte unbewusst "kompensiert" werden. Dieser Umstand wurde mir während meiner eigenen Diagnostik schlagartig bewusst, als ich die Fragen der Diagnosebögen beantwortet hatte. So zeigte sich, dass ich beim Durchgehen der Fragen zwei Antworten im Kopf hatte - zum Einen die kompensierte Antwort, wie ich sie im Laufe meines Lebens erlernt hatte, um nicht aufzufallen und zum Anderen - tief in mir - die Antwort, wie sie mein Ich gerne intuitiv geben würde. Diese innere Antwort war aber nur für einen kurzen Moment greifbar und war vielmehr eine Art Impuls, der aber sofort von meinem Bewusstsein in die "gesellschaftlich verträglichere" Variante geändert wurde. Nur durch tiefes in mich Hineinspüren war es mir möglich, beide Antworten auszuformulieren und auch beide Antworten auf dem Fragebogen anzugeben. Dies war für meine Diagnostik essentiell, da ich womöglich ohne Angabe der "unkompensierten" Antwort meine eigene Diagnose gefährdet hätte - und dies ohne es bemerkt zu haben.

Seid ausführlich!

Mein Rat an euch lautet also: seid ausführlich! Habt keine Angst, euch dem Diagnostiker zu öffnen und erzählt ihm von dem, was in euch vorgeht. Er kann schließlich nicht in euch hineinsehen und sieht somit rein das, was ihr ihm nach außen hin sehen lasst. Ihr könnt dabei nicht "zu ausführlich" sein. Wenn sich etwas in euch sträubt, nicht richtig anfühlt oder ihr einen Widerspruch in euren Gedanken / Gefühlen feststellt - teilt euch mit. Das hilft euch und dem Diagnostiker, eine zuverlässige Diagnosestellung zu ermöglichen.

Ein Beispiel, welches den Zwiespalt zwischen Wahrheitsliebe beim Beantworten der Fragen und den tatsächlich viel wichtigeren inneren Impulsen wiederspiegelt, ist mit folgender Aussage aus einem Fragebogen meiner eigenen Diagnostik gut zu verdeutlichen:

"Ich sortiere meine Kleidung nach weiteren Kriterien, als nur der Art des Kleidungsstückes, z.B. der Farbe". Nun musste ich ankreuzen, wie weit ich dieser Aussage zustimme. Von "stimme überhaupt nicht zu" bis "stimme voll zu" standen mehrere Abstufungen zur Wahl. Abstufungen, die den Sachverhalt nicht annähernd hätten abbilden können, da die Beantwortung weitaus komplexer war. Würde es nämlich nach meinem inneren Impuls gehen, würde ich gerne "stimme voll zu" ankreuzen - die Realität hingegen sieht aber völlig anders aus, da mein Schrank nicht genug Platz für eine solch' detaillierte Sortierung bietet. Würde ich also wahrheitsgemäß "trifft überhaupt nicht zu" beantworten, dann wäre ich in diesem Punkt nicht weiter auffällig. Um diese Diskrepanz meiner Ärztin aufzuzeigen, habe ich bei allen nicht eindeutig zu beantwortenden Fragen weitere, persönliche Ausführungen angefügt.

Es ist also erforderlich, dass dem Probanden entweder die Möglichkeit gegeben wird, zu den Punkten eine detaillierte Stellungnahme zu ermöglichen oder die Fragen von vornherein eindeutig zu formulieren. Folgende Formulierung hätte beispielsweise keinerlei Zwiespalt in mir hervorgerufen und eine eindeutige Beantwortung ermöglicht: "Ich sortiere meine Kleidung nach weiteren Kriterien, als nur der Art des Kleidungsstückes, z.B der Farbe oder würde dies gerne tun, wenn es mir möglich wäre." Ein kleiner Nachsatz, der eine so große Wirkung hätte und die Fehlerquote bei der Beantwortung deutlich senken würde.

Ich persönlich würde allerdings zu einer Lösung tendieren, die beide Ansätze berücksichtigt. Dass sowohl die Antworten überarbeitet werden, als auch die Möglichkeit für zusätzliche Angaben gegeben wird. Einerseits wird dadurch der Bedarf an zusätzlichen Ausführungen reduziert, andererseits laufen wir aber auch nicht Gefahr, potentiell wichtige Informationen zu verlieren, falls eine Frage doch nicht eindeutig beantwortet werden kann.

Die richtigen Fragen bei der Anamnese

Die Diagnostiker müssen also über einen hohen Grad an Fachwissen und auch Einfühlungsvermögen verfügen, um die richtigen Fragen stellen zu können und auch die richtigen Schlüsse aus den Antworten zu ziehen. Gerade die feinen Nuancen in der Fragestellung können falsch formuliert eine völlig andere, nicht aussagekräftige Antwort provozieren und die Diagnose somit verfälschen. Auch findet sich die richtige Antwort sehr oft zwischen den Zeilen der gegebenen Antwort oder in der Reaktion, die der Proband auf die Fragestellung zeigt. Gerade in den ersten Sekunden nach der Fragestellung wird der Zwiespalt zwischen innerer Wahrheit und kompensierter Antwort sichtbar. Dies zu erkennen erfordert allerdings ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Erfahrung des Diagnostikers. Die Antwort des Probanden sollte bei Auffälligkeiten nochmals tiefer beleuchtet werden, um auf die Ursache der Diskrepanz zu stoßen.

Autismusdiagnose scheitert oft aufgrund weicher Kriterien

Ein weiterer Aspekt, der eine verlässliche Autismusdiagnose oft verhindert und zu zahlreichen falsch-negativen Diagnosen führt, sind die Diagnostiker an sich. Wie bereits erwähnt, sind die Anforderungen an die Diagnostiker durch die Komplexität des Autismusspektrums sehr hoch.

Unzureichend ausgebildetes Personal mit nur wenig ausgeprägtem Einfühlungsvermögen oder ein Beharren auf veraltetem Wissen ist für eine qualifizierte Autismusdiagnose fatal. Gerade weil sich jeder Autist in seinen äußeren Ausprägungen von anderen Autisten grundlegend unterscheiden kann, sind die personellen Anforderungen an Diagnostiker besonders hoch.

Dabei unterliegen insbesondere diese "weichen Kriterien" in ihren äußeren Ausprägungen einer potentiell möglichen kognitiven Kompensation und sollten daher lediglich als Indiz für eine vorliegende Autismus-Spektrums-Störung Verwendung finden und nicht als Ausschlusskriterium für eine solche angesehen werden. Leider ist dies aber gerade bei Diagnosestellen mit veraltetem Wissen häufig der Fall. Bei einem solchen Diagnostiker hätte ich selbst wohl niemals eine Autismusdiagnose erhalten, da keines dieser Kriterien bei mir "autistisch auffällig" ist.

Als Beispiel möchte ich an dieser Stelle die entsprechenden Stellen meiner eigenen Diagnose zitieren.

Reading mind in the eyes - Verfahren (Augenpartietest)

Erfasst wird die Fähigkeit, aus dem Augenausdruck einer Person auf deren Gemütsverfassung zu schließen. [..]

Ergebnis: Es zeigen sich keine autismusspezifischen Schwierigkeiten, den mentalen Zustand einer Person non-verbal identifizieren zu können. Herr Schneider kann bei 31 von 36 Augenpaaren (86%) den mentalen Zustand erfassen. Bei Probanden ohne ASS liegt der Erwartungswert zwischen 72% und 86% korrekter Identifikationen.

Herr Schneider berichtet bei der Bearbeitung der Aufgabenstellung (ohne Zeitbegrenzung) eine als "extrem" erlebte Anstrengung. Er müsse das "Gesicht zerlegen", um zu einer Einschätzung zu gelangen. [..]

Besonders wichtig ist hier der letzte Absatz - dieser zeigt nämlich deutlich, dass Autisten durchaus in der Lage sind, bestimmte Defizite auf kognitiver Ebene auszugleichen. Dies gelingt aber nur unter enormer geistiger Anstrengung.

Basisemotionen nach Ekman

Erfasst wird die Fähigkeit, aus dem Gesichtsausdruck einer Person auf deren Gemütsverfassung zu schließen. [..]

Ergebnis und Kommentierung: Herr Schneider kann 5 der 7 Gesichtsausdrücke (71 %) den entsprechenden emotionalen Zuständen zuordnen und dies mit Merkmalen der jeweiligen Mimik begründen. Bei den 2 weiteren Emotionen nimmt Herr Schneider eher allgemeinere Ausdrücke bestimmter Haltungen als konkrete Gefühle wahr.

Um die Diagnostik nicht durch eine Musterlösung zu beeinträchtigen, verzichte ich hier auf eine Nennung der zu erkennenden Emotionen, sowie meiner genauen Interpretation. Aber auch ohne dieser Auflistung wird der entscheidende Punkt doch sehr deutlich - ist in der Kindheit genug Puffer zur Kompensation vorhanden, können selbst die komplexen Zusammenhänge, ausgedrückter Emotionen erlernt werden. Im Gegensatz zu nicht autistischen Menschen allerdings auf rein bewusster Ebene - das "Ertragen" und Erkennen fremder Emotionen ist also ebenfalls sehr anstrengend und muss in ihren Merkmalen mit bekannten Mustern mühsam abgeglichen werden.

Faux Pas Test

Erfasst wird die Fähigkeit, in Kurzgeschichten zu komplexen sozialen Situationen zu erkennen, wann ein Protagonist in ein "Fettnäpfchen" tritt, sowie die Kompetenz, die soziale Brisanz dieser Situation interpretieren zu können. [..]

Ergebnis: Herr Schneider hat die Eckdaten der Geschichten jeweils erfasst, es bestand folglich kein Mangel im inhaltlichen Verständnis. Bei der Interpretation der sozialen Situation zeigten sich keine autismusspezifischen Schwächen. Auf die Frage "Hat in dieser Geschichte jemand etwas getan oder gesagt, was er lieber nicht hätte tun oder sagen sollen?" konnte Herr Schneider 100 % der Faux Pas Situationen korrekt identifizieren und interpretieren.

Zur Frage, wie sich der Protagonist der Kurzgeschichte jeweils gefühlt haben könnte, konnte Herr Schneider bei 100 % der Faux Pas Geschichten eine adäquate emotionale Befindlichkeit benennen.

Herr Schneider nahm in keiner der Kontrollgeschichten "komisches Verhalten" wahr, er konnte alle Kontrollgeschichten korrekt identifizieren. Aufgrund der zügigen und korrekten Bearbeitung der Tests, wurde auf die vollständige Durchführung verzichtet (von insgesamt 20 Geschichten wurden 14 bearbeitet), da davon auszugehen ist, dass auch die nicht bearbeiteten Geschichten vom Probanden korrekt bearbeitet worden wären.

Gerade bei Autisten mit äußerst ausgeprägter kognitiver Leistungsfähigkeit ist eine Interpretation von gesellschaftlichen Situationen durchaus in vollem Umfang möglich - aber nicht jederzeit garantiert. Gerade, wenn man sich persönlich in dieser konkreten Situation befindet, ist es oftmals sehr schwierig, die feinen Nuancen des Miteinanders zu erkennen. Dies liegt an der starken kognitiven Anforderung, der unser Gehirn während dieser Situationen ausgesetzt ist. Es ist in diesen Momenten also nicht möglich, die Bestandteile der sozialen Interaktion mit bereits bekannten Erfahrungen abzugleichen - ein nicht Erkennen von Fettnäpfchen ist dabei oftmals die Folge. Daher durchleben wir erlebte Situationen im Nachhinein auch sehr oft immer und immer wieder, um diese in einer reizarmen Umgebung nachträglich analysieren und bewerten zu können. Unsicherheit über unser Verhalten und ein schlechtes Gewissen sind oftmals die Folge.

Theory of Mind und soziale Interaktion

[..] Es zeigen sich keine autismusspezifischen Schwierigkeiten beim Erkennen sozial brisanter Situationen ("Fettnäpfchen") sowie im Erkennen des mentalen Zustands einer Person. Aus den Schilderungen Herrn Schneiders könnten lerngeschichtlich erworbene Interpretationsregeln für soziale Interaktion sein Verhaltensrepertoire entsprechend erweitert haben. Herr Schneider verfügt über gute Fähigkeiten, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können (z.B. in deren Wahrnehmung, Gefühle und Gedanken) - die sog. Theory of Mind. Allerdings bedarf dies einer reizreduzierten Umgebung, sowie ausreichend verfügbarer Zeit und Konzentrationsfähigkeit. [..]

Eine einheitliche Diagnostik ist erforderlich

Eine möglichst verlässliche Autismusdiagnostik ist nur dadurch zu erreichen, indem ein verbindlicher Standard etabliert wird, der ständig durch neue Erkenntnisse erweitert oder abgeändert wird. Zudem sollten sich Diagnostiker regelmäßigen (Re-)Validierungen unterwerfen müssen, um die Qualitätsansprüche dauerhaft zu gewährleisten. Wer nicht ausreichend geschultes oder für Autisten ungeeignetes Personal einsetzt und / oder sein Wissen nicht ständig aktualisiert, sollte seine Zulassung zur Autismusdiagnostik verlieren. Das mag hart erscheinen, ist aber für Autisten essentiell. Besser weniger, aber dafür qualitativ hochwertige Diagnosestellen, als eine Vielzahl inkompetenter selbsternannter "Fachleute".

Ich höre schon jetzt den Aufschrei, den diese Aussage auslösen wird: "aber es gibt doch sowieso schon zu wenig Diagnosestellen, wie soll es mit noch weniger anerkannten Stellen funktionieren?". Ja das stimmt. Es gibt auch aktuell schon zu wenige Zentren, die eine Diagnostik anbieten. Aber sollen wir dieses Versagen von Politik und Medizin auf Kosten der Betroffenen mit unfähigen Diagnostikern ausgleichen? Betrachten wir diesen Sachverhalt realistisch:

  1. die Glücklichen mit genügend Rückhalt und / oder Puffer werden sich eine weitere Meinung einholen - das Gesundheitssystem, das die Kosten der Diagnostik in der Regel trägt, wird also unnötig mehrfach belastet. Zudem wird zuletzt trotz allem in den meisten Fällen eine kompetente Diagnosestelle in Anspruch genommen - das Argument der ohnehin zu wenigen Stellen ist somit nicht mehr stichhaltig.
  2. die - vielleicht ohnehin bereits psychisch angeschlagenen - Autisten ohne Rückhalt oder Puffer ergeben sich oftmals dieser falschen Diagnose. Sie hatten sich allerdings oft bereits stark mit dem Spektrum identifiziert und all ihre Hoffnung in eine Diagnose gesteckt, um endlich eine Antwort auf all ihre Probleme zu finden. Nur um dann aufgrund einer Nichtigkeit erneut ohne etwas Handfestem dazustehen und sich zudem oftmals noch dreiste Aussagen gefallen lassen zu müssen. Diese Autisten leiden besonders unter einer falsch-negativen Diagnose. Es folgt Unsicherheit und Mutlosigkeit, einen weiteren Anlauf zu unternehmen.

Folgen einer falsch-negativen Autismusdiagnose

  • Verschwendung von Kassengeldern
  • psychische Belastung der Probanden

Doch was eine falsch-negative Diagnose langfristig anzurichtigen vermag ist weitaus schlimmer. Denn allzu oft führt ein unentdeckter Autismus - selbst ohne vorhergehender negativer Diagnose - zu Depression und Verzweiflung, die durch eine falsch-negative Diagnose nur noch weiter verstärkt wird.

Eine verlässliche Diagnose ist für viele Autisten der letzte Strohhalm, an den sie sich voll Hoffnung klammern - ein aufgehendes Licht am dunklen Horizont der Verzweiflung. Die Hoffnung, endlich eine Erklärung für all die Probleme und das Leid ihres bisherigen Lebens gefunden zu haben. Können Sie nun erahnen, welche Qual es für einen Autisten bedeutet, diesen Strohhalm gewaltsam - vielleicht noch mit einem dreisten Spruch - entrissen zu bekommen?

Insbesondere spätdiagnostizierte hochfunktionale Autisten unterziehen sich nicht aus Spaß oder ohne gutem Grund einer Diagnostik. Das Thema Autismus ist für sie oft der letzte Nagel, an den sie sich hoffnungsvoll klammern und der ihr bisheriges Leben oftmals im Rückblick so gut beschreibt und erklärt. Dieser Personenkreis hat sich in der Regel im Vorfeld der Diagnostik auch schon intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt und sich in den Ausprägungen oder auch in den Erzählungen anderer Autisten - wenn auch teils nur in den Grundzügen - sehr gut wiedergefunden. Mir scheint es, als weisen Autisten in diesem Fall einen sehr hohen Grad an "Selbstobjektivität" auf, so dass sie durchaus in der Lage sind, sich in der Thematik zuverlässig wiederzufinden. Auch habe ich festgestellt, dass sich Autisten sehr oft untereinander erkennen, da wir uns nicht nur in den äußeren Ausprägungen wiederfinden, sondern uns in den grundlegenden Defiziten des Anderen selbst erkennen.

Autisten als Teil der Diagnostik

Es könnte also zu einer signifikanten Verbesserung der Diagnostik beitragen, wenn während des Anamnesetermins ein höchst funktionaler Autist zugegen ist. Es werden so viele Methoden mit in die Diagnostik aufgenommen, die sich noch im Versuchsstadium befinden. Warum also nicht auch das? Es kann sicherlich nicht schaden. Außerdem dürfte es unstrittig sein, dass sich Autisten, deren Spezialinteresse Autismus ist, besser mit der Thematik auskennen, als es manche "Experten" tun. Zudem können wir neben dem theoretischen Aspekt die Thematik auch mit den eigenen Erfahrungen bereichern. Ich glaube, die Medizin unterschätzt noch immer das Potential, welches Autisten wie Ich bieten können - wenn es nur endlich genutzt werden würde.

Die Begründungen

Falsch gestellte, negative Diagnosen lassen sich oft schon an Ihren fadenscheinigen Begründungen erkennen. Lassen Sie sich davon bitte nicht verunsichern - recherchieren Sie, ob die genannte Begründung überhaupt als solche zu werten ist und falls ja, ob diese noch ihre Gültigkeit besitzt oder bereits als veraltet gilt.

Haben Sie Zweifel an der Richtigkeit der Diagnose, dann handeln Sie. Holen Sie sich Rat bei Betroffenen, Angehörigen oder Fachleuten. Vielleicht gibt es in Ihrer Nähe Selbsthilfegruppen oder Stammtische über die Sie sich persönlich mit anderen austauschen können. Schildern Sie Ihr Problem in Internetforen - meine Erfahrung ist, dass es dort sehr oft Autisten gibt, die genau die Eigenschaft aufweisen, die der Diagnostiker als Ausschlusskriterium angegeben hat. Insbesondere, wenn es sich bei diesem Kriterium um ein kompensierbares handelt. Gerne können Sie auch mich zu Rate ziehen. Nur eine Bitte: geben Sie nicht auf

"Sie haben sich ihr ganzes Leben über nicht als Autistin gefühlt - daher können Sie auch keine sein"

Für etwas sein ganzes Leben keinen Namen zu haben bedeutet nicht, dass es nicht vorhanden war! Insbesondere in Anbetracht dessen, dass das vorherrschende Bild von Autisten noch vor 10 Jahren derart extrem gezeichnet war, dass wir uns zwar womöglich in den Grundzügen wiedererkannt haben, diese Vorstellung aber dennoch schnell wieder aus unseren Köpfen verbannt haben. So konnte ich mich zwar in einer gewissen Art und Weise durchaus mit den überspitzt gezeichneten "Horrorfilm-Autisten" identifizieren, hätte daraus aber dennoch nie geschlossen, tatsächlich Autist zu sein.

"Sie können Blickkontakt halten - das ist ein Ausschlusskriterium für Autismus"

Ich muss gestehen, als ich von dieser Aussage gelesen hatte, spürte ich Wut in mir aufsteigen. Wut darüber, mit wie wenig fachlicher Kompetenz jemand berechtigt ist, eine Diagnose zu stellen. Wollen Sie (nicht Sie lieber Leser, sondern der zitierte "Fachmann") mich eigentlich verarschen? Augenkontakt als Ausschlusskriterium? Als A U S S C H L U S S K R I T E R I U M?

Bitte entschuldigen Sie meine Direktheit, aber Sie stellen sich nicht ernsthaft hin - vor einen Betroffenen, der seine ganze Hoffnung in Ihre vermeintliche Kompetenz gesteckt hatte - und erdreisten sich, eine Diagnose zu einem Thema zu stellen, von dem Sie offensichtlich nicht die geringste Ahnung haben? Und diese Inkompetenz lassen Sie sich auch noch honorieren - was Sie damit anrichten ist Ihnen hingegen scheinbar völlig egal. Für den Fall, dass noch nicht ganz klar wurde, worauf ich hinaus wollte (ja auch Autisten können Sarkasmus einsetzen): Blickkontakt - in jeder erdenklichen Form - ist kein Ausschlusskriterium für Autismus.

Man kann die Art und Weise oder das grundsätzliche Vorhandensein zwar durchaus mit in die Diagnostik einfließen lassen - allerdings ausschließlich als Indiz für Autismus und niemals als Indiz oder sogar Kriterium dagegen. Es gibt unzählige Autisten, die gelernt haben, Blickkontakt zu simulieren, indem sie ihren Blick zum Beispiel auf den Mund oder die Nasenwurzel richten. Es gibt aber auch Autisten wie mich, die in der Lage sind, die dabei übermittelten Reize derart kompensieren zu können, dass ein völlig natürlicher Blickkontakt möglich ist. Zumindest für eine gewisse Zeit und unter Einbeziehung kognitiver Ressourcen. Oder bin ich in Ihren Augen ebenfalls kein Autist?

"Aussschlusskriterium" Empathie

Die Empathiefähigkeit als Ausschlusskriterium zu betrachten ist mittlerweile antiquiert - denn gerade Frauen oder Autisten im hoch- / höchst-funktionalen Teil des Spektrums sind sehr wohl auch zu einer äußeren - sichtbaren - Empathiefähigkeit in der Lage. Sichtbar deshalb, weil jeder Autist zu Empathie fähig ist - sogar stärker, als es bei Nicht-Autisten oft der Fall ist. Bei weniger funktionalen Autisten zeigt sich diese allerdings oftmals nicht, da der Autist von den eintreffenden Reizen förmlich überrollt wird. Es stimmt mich aber hoffnungsvoll, dass die falsche Annahme, dass Autisten nicht zu Empathie fähig sind, bald auch in der breiten Masse der Vergangenheit angehören wird. Zumindest weisen die zunehmenden Suchanfragen in Google nach Autismus und Empathie darauf hin.

Was soll das?

Sollen wir also weiterhin tatenlos dabei zusehen, wie Personen auf Autisten losgelassen werden, die weder über ausreichende Ahnung zu der Materie verfügen, noch über das Interesse oder Einfühlungsvermögen, um überhaupt zu versuchen, Autisten in irgendeiner Art und Weise zu verstehen. Soll weiterhin billigend in Kauf genommen werden, dass Autisten an diesem falschen Umgang mit ihnen zerbrechen und sich im schlimmsten Fall in den Tod stürzen? Oder beginnen Mediziner, sowie Politiker endlich, die Missstände auszuräumen und für verbindliche, zeitgemäße Standards zu sorgen und diese auch durchzusetzen?

Ich möchte keinesfalls behaupten, dass alle negativen Autismus-Diagnosen falsch sind. Ganz und gar nicht. Selbstverständlich gibt es eine Vielzahl an Verdachtsfällen, deren Problematik in Wirklichkeit in anderen Ursachen begründet liegen. Um diese allerdings valide abgrenzen zu können, muss zuvor eine zuverlässige Diagnostik gewährleistet werden.

Daher möchte ich auch eine Bitte an die Mitarbeiter in den Autismus-Beratungsstellen richten. Schickt potentiell Betroffene nicht mehr zu Diagnostikern, die bekannt sind für Ihren schlechten Umgang mit Autisten, nur weil diese vor Ort oder in der Nähe sind. Ich weiß, ihr meint es nur gut, aber ihr tut den Hilfesuchenden damit nichts Gutes.

Insbesondere Betroffenen in der Region Passau möchte ich einen Rat zur Seite geben: geht nicht zu dem Herren, der euch in Passau empfohlen wird - was mir hier oft an Aussagen zu Ohren kommen, lässt jedes Mal meine Nackenhaare sträuben. Gerade von hochfunktionalen Autisten oder weiblichen Autisten hat dieser Herr keine Ahnung. Nehmt lieber eine etwas weitere Anfahrt in Kauf und lasst die Diagnostik bei Frau Dr. Blaas in Regensburg durchführen. Sie und Ihr Team sind nicht nur auf dem neuesten Stand, sondern hören zudem auch zu.

Zuverlässigkeit schafft Vertrauen. Vertrauen schafft Sicherheit

Gemeinsam für mehr Aufklärung

Wir können den Status Quo nicht von heute auf morgen ändern. Selbst dann nicht, wenn die Fachleute ein Einsehen haben und die Missstände angehen. Es wäre utopisch zu glauben, dass sich ein solch großer, komplexer Apparat derart einfach ändern ließe.

Den wichtigsten Punkt allerdings - den Punkt, der die Grundlage jedes weiteren Schrittes darstellt - diesen einen Punkt könnten wir bereits heute als erledigt betrachten, wäre die Mehrheit endlich willens zuzuhören.

Einige tun dies bereits und dieser Personenkreis zählt nicht ohne Grund zu den Größen innerhalb der Autismus-Thematik. Sie hören nämlich nicht nur zu, sondern nehmen das Gesagte zudem zum Anlass, um Ihr Fachwissen ständig aufs Neue zu hinterfragen und mit Informationen aus erster Hand zu erweitern. Für dieses Engagement gebührt euch unser aller Dank!

Allen Anderen muss die Notwendigkeit des Zuhörens erst vor Augen geführt werden. Dieses Ziel erreichen wir allerdings nur durch Aufklärung. Meine Idee ist daher folgende: eine Zusammenstellung der häufigsten inkorrekten oder veralteten Begründungen, die letztlich zu einer falschen negativen Diagnose geführt haben. Jede dieser Begründungen / Aussagen wird mit sachlich fundierten Aussagen widerlegt.

Dafür benötige ich allerdings eure Hilfe! Wenn ihr wollt, erzählt mir von euren Erlebnissen und mit welchen fadenscheinigen Begründungen eine Diagnose abgelehnt wurde. Abhängig von der Anzahl der Zuschriften und der Menge an unterschiedlichen Begründungen werde ich dann das am Besten geeignete Medium zur Veröffentlichung bestimmen.

Dabei versteht es sich von selbst, dass eure Daten vertraulich behandelt und ausschließlich anonym veröffentlicht werden!

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